EINLEITUNG

INTRODUCTION

Künstlerisches Forschen verankere ich im Sinne eines Findens”, eine Bewegung, bei der es gilt, […] sich in verschiedenen Zonen der ­Unbestimmtheit aufzuhalten, Negativitäten, Unschärfen oder Friktionen auszuhalten, mit Fiktionen und Disruptionen zu arbeiten […] Details ­aufzurufen” [9] und diese ästhetisch und künstlerisch einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Künstlerische Forschung erweist für mich dort ihren sinnvollen Einsatz  „[…] wo sie intervenierend und intermittierend […]

in Alltagswelten eingreift, um diese weiterzuentwickeln, zu verwandeln oder zu verschieben und in überraschende, manchmal auch unverständliche Richtungen voran­zu­treiben.” [5]

'Pain finds

      its way everywhere,

                            into my vision, my feelings

   my sense of judgement

                 it is an infiltration.' [1]

next PAIN DIALOGUES

 

Was passiert mit der inneren und äusseren Welt eines Menschen, wenn kein medizinisches Verfahren die Ursache des erlebten Schmerzes (mehr) zu entziffern vermag? Wenn der Schmerz zum eigenständigen Krankheitsbild Chronischer Schmerz [2] geworden ist?


Erzählungen und Beschreibungen in Worten sind oftmals die einzige Möglichkeit, die Schmerzpatient*innen beim Versuch, ihre Empfindungen medizinischen Fachpersonen mitzuteilen, zur Verfügung steht.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob Worte dazu überhaupt taugen, oder, wie es Alphonse Daudet [3] in dem 1931 posthum erschienenen Buch In the Land of Pain formuliert: „Are words actually any use to describe what pain [...] really feels like? Words only come when everything is over, when things have calmed down. They refer only to memory, and are either powerless or untruthful.”

 

Im Zeitraum von zwei Jahren war ich persönlich mit chronischen Kopfschmerzen konfrontiert. In dieser Zeit erfuhr ich viel über verschiedene medizinische­­ Mittel und Methoden der Schmerz­behandlung, aber auch über die Schwierigkeit einer genauen Diagnose aufgrund der Unsichtbarkeit von Schmerz und einer Art Übersetzungslücke in der Kommunikation mit den Schmerzspezialist*innen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, des Unvermögens, den empfundenen Schmerz darstellen oder vermitteln zu können, be­schäftigte­ mich sehr. Wie mitteilen, was der Schmerz für mich bedeutet? Wie er sich anfühlt? Welche Auswirkungen er auf meinen Alltag hat? Woher er kommt und wohin er geht? All dies waren Fragen, die mich sehr beschäftigten.


Die vorliegende künstlerische Exposition zu chronischen Schmerzen hat zum Ziel, über meine eigene Schmerzerfahrung hinaus im transdisziplinären Dialog [4] mit Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden und Menschen, welche diese  behandeln, einen in Art und Weise ungewöhnlichen Einblick in die Multidimensionalität der Krankheit Chronischer Schmerz zu ermöglichen. Die unternommenen Schritte und Unternehmungen dieser künstlerischen Forschungsarbeit sind der Versuch eines künstlerischen Brückenschlags zwischen Schmerzmedizin, von der Krankheit betroffenen Menschen, den damit zusammenhängenden sozialen und politischen Prozessen und einer interessierten Öffentlichkeit.

 

 

 



Das hier vorgestellte Projekt versteht sich demnach als transdisziplinäre ­Unter­suchung und Forschung durch mich als Künstlerin und Schmerz­erinnernde im Dialog mit Patient*innen und Schmerzspezialist*innen und kreist um folgende Kernfrage: „Wie liegen chronische Schmerzen im Leben von schmerzbetroffenen und -behandelnden Menschen drin?”


Die physische Basis dazu bildete eine dreimonatige künstlerisch-wissenschaftliche Residenz am Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil (CH) [6], organisiert und durchgeführt vom artists-in-labs program [7] in Zusammenarbeit mit dem Master Transdisziplinarität [8] der Zürcher Hochschule der Künste. Aufgrund der kurz nach Beginn der Residenz ver­ordneten Massnahmen zur Eindämmung der Corona­-Pandemie musste ich mein Konzept aber strukturell komplett umdenken, da ich mich bis auf Weiteres nicht mehr vor Ort in der Klinik aufhalten konnte. Ich verlagerte die Residenz in den virtuellen Raum.

 

Per Videotelefonie-Plattform erforschte ich in insgesamt zwölf ungefähr einstündigen Gesprächen mit Patient*innen, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Pflegefachkräften, wie chronische Schmerzen das Leben ­beeinflussen und verändern, und wie chronische Schmerzen in Bezug auf die gestellte Forschungsfrage im Leben der betroffenen Menschen drinliegen. Ferner untersuchte ich, welche Bedeutung der sozialen, politischen und kulturellen Verankerung des Schmerzerlebens in der Gesellschaft zukommt.





 

 

 

Als Künstlerin mit einer visuellen und szenischen Praxis begann ich die künstlerische Suchbewegung mit der interaktiven Bildarbeit Das Schmerzgedächtnis MEMORIZED PAIN, die auch den Einstieg in diese Publikation bildet.

 

Die Arbeit ist der erste Schritt von der eigenen Schmerzerinnerung hin zu den Schmerzdialogen PAIN DIALOGUES und reflektiert als visuelle Erfahrung Schmerz, Erinnerung, Wiederholung, Zeit und Veränderung im Zusammenhang mit dem sogenannten Schmerzgedächtnis [10] in der Medizin. Das Schmerzgedächtnis beschreibt also die Speicherung eines über längere Zeit wieder­kehrenden Schmerzerlebnisses, welches nicht in den für akute Empfindungen zuständigen Hirnregionen als Warnsignal, sondern im Langzeitgedächtnis abgelegt wird.


 

Die unter PAIN DIALOGUES abgelegten Gesprächstranskripte sowie die auf der Eröffnungsseite der Exposition animierten Dialogfragmente TEXT FRAGMENTS sind erste künstlerische Forschungsergebnisse dieser Untersuchung. Sie geben auf ungwöhnliche Weise einen Einblick in die Multidimensionalität und Reichweite von chronischen Schmerzen im Leben der befragten Menschen und sollen durch ihre fragmentierte Aufbereitung auch ein vielfältiges Lesen über die individuellen Geschichten hinaus ermöglichen.

 

Die PERFORMATIVE INTERVENTION am Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil ist als Reaktion auf die Einschränkungen durch die damals gerade ausgebrochene Corona-Pandemie entstanden. Sie ist ein Versuch, das in den Einzelgesprächen erprobte Dialogsystem zum einen mit einer Gruppe von Menschen gleichzeitig durchzuführen, zum andern den oben genannten künstlerischen Brückenschlag in einer performativen und visuellen Form erlebbar zu machen. Diese künstlerische Umsetzung soll zu Gedanken über räumliche und zeitliche Assoziationen zu Schmerz, Isolation und Schwierigkeiten des Sich-Mitteilens inspirieren, wenn gewohnte Wege nicht mehr funktionieren. Sie thematisiert in diesem Sinn chronische Schmerzen und zugleich die ausserordentliche Situation vieler Menschen in der Pandemie.


Das Kapitel RESEARCH MOVEMENT gibt schliesslich einen Einblick in die künstlerische und theoretische Suchbewegung und skizziert weitere mediale und technische Versuche zu Schmerz, Zeit und Erzählstrukturen.