Die Hypothese dieses Versuchs lautet:
Sirenen existier(t)en und Odysseus hat uns von ihnen erzählt. Da er aber weder Messgeräte bei sich hatte, noch die Wissenschaft ausgereift war, war seine Beschreibung der Sirenen mangelhaft. Mit dem Fortschritt in der Wissenschaft und im Laufe der Geschichte konnte aber die Beschreibung der Sirenen korrigiert werden. Wir wissen heute, dass sie nicht halb Vogel, halb Mensch waren, sondern halb Mensch, halb Fisch (eine Verwechslung, die Dank der Theologen des Mittelalters sowie Malern vieler Jahrhunderte aufgedeckt wurde). Auch gibt es aktuelle Forschung zur Akustik an den Inseln der Sirenen, hier ein Link zum Resümee der Akustiker Karl-Heinz Frommolt und Martin Carlé, die gemeinsam mit Friedrich Kittler li Galli bereisten.
Und hier ein Bild zu den die Inseln bewohnenden Robben.


Und da schauen wir uns an und sagen "fahr wir hin" und das haben wir gemacht, letzten April. Drei Frauen, eine war nur in Gestalt einer Geliebten dabei, zwei Frauen waren zwei Sirenen, engagiert von dem Komponisten und Dirigenten und ich hatte mit denen griechische Lieder einstudiert und er mit denen moderne Musik.

*
Anders gesagt, die Männer nahmen sich Frauen als Material mit, die durch Kulturgeschichte, welche unter anderem auf dem Sirenenmythos basiert, vorgeformt waren, um ihre Forschung durch sie durchzuführen. Des Weiteren – und das darf ich sagen weil der Versuch so explizit angelegt war, als Vergleich von Mönchsrobben-Gesängen und klassischem Gesang, deren Identität sie vermuteten – ihre Hypothesen bestätigt zu bekommen. Sie haben also nicht an den Inseln nach dem Gesang der Sirenen gesucht, geschweige denn versucht, mit Sirenen zu kommunizieren, sie eventuell zu befragen, sondern sie trugen sie in zu Audiorecordings komprimierter Form bei sich sowie als „ausgebildete Sopranistinnen”, was der Beschreibung des Versuchs zufolge bedeutet, dass sie singen, wenn und wo sie sollen und darüber hinaus weder einen qualitativ noch einen quantitativ erfassungswürdigen Anteil in dieser Forschungsangelegenheit haben. 

2004 begab sich also eine Gruppe Männer auf die Spuren des sich auf die Spuren begeben habenden Mannes der sich auf die Spuren Homers begeben hatte, der die Spuren Odysseus nachgezeichnet hatte, der eben jenem all jenes erzählt haben soll. Sie führten ihre Forschung zur akustischen Realität der Dichtung Homers durch, denn es sei der Wahrheitsgehalt dieser Überlieferungen, nach dem diese immer wieder Fragen aufwerfe. Außerdem nehmen sie an, dass dieser Wahrheitsgehalt, in der Übereinstimmung des Mythos mit der physikalischen Realität zu finden sei – nicht in einer sozialen, kulturellen, sprachlichen, literarischen, sondern einer faktischen, naturwissenschaftlichen – letztendlich: diese Übereinstimmung sei messbar.

Für einen Moment überlege ich, ob dieses Forschungsprojekt eigentlich eine Illustration von de Beauvoirs Das Andere Geschlecht ist, in jeder Hinsicht, aber insbesondere des Kapitels II (Geschichte):
[…] wenn er [der Mann] den Riten noch einen Platz zuerkennt, so scheinen ihm doch exakte technische Verfahren sehr viel wichtiger zu sein; die mystischen Werte treten in den Hintergrund, während praktische Interessen den ersten Rang einnehmen.

*

Um die Forscher aber selbst zu Wort kommen zu lassen, hier ein Auszug aus den Forschungsergebnissen:
Die Messung der Signale erfolgte von einem Ruderboot aus entlang der eingezeichneten Messpunkte.
Wie zu erwarten nimmt der Pegel des aufgezeichneten Signals mit größer werdender Entfernung vom Ort des Schallereignisses ab (Positionen 1 bis 3). Das Bild ändert sich jedoch deutlich im Bereich zwischen den beiden vorgelagerten Inseln (Positionen 4 und 5). In diesem Bereich waren die Signale deutlich lauter als an den Positionen 2 und 3. Die Messungen wurden durch die subjektive Lautstärkeempfindung bestätigt.
*
Die subjektive Empfindung der Männer wohlgemerkt. Was ja nicht zu verachten ist, also: Nehmen wir also an, that they hit the spot. Das war es! Genau der Punkt, an dem Odysseus vorbei segelte als die Sirenen genau dort sangen wo die ausgebildeten Sopranistinnen für Kittler und Gefolgschaft sangen!
Davon abgesehen, dass die Männer alles so vor fanden wie erwartet: Wie erlebten die Sopranistinnen diesen Ort, an dem sie sich befanden. Wie klangen sie für sich selbst? Füreinander? Nahmen sie das Schiff der Forscher von dem Punkt aus, an dem sie sich befanden, überhaupt wahr? Weil sie wussten, dass es dort segelte?

Wieder (Odysseus) und wieder (Homer) und wieder (Bradford) und wieder (Kittler) einmal steuerte also ein Odysseus mithilfe seiner Mannschaft an der Insel der Sirenen vorbei, ohne diese zu hören. Nicht mal weil die Sirenen schwiegen, wie Kafka meint * – sondern weil über all das Reden der Männer untereinander und füreinander die Sirenen nicht zu Wort kamen.

Kittler und seine zehn männlichen Kollegen meinten also duch ihre Expedition den Mythos endlich mal auf eine experimentelle Basis […] statt immer auf eine Textwichserei* zu stellen.
Ich glaube allerdings, dass dieses Experiment, so praktisch es auch sein mag, nicht weniger textwichserisch ist, nur weil weil es sich nicht explizit auf Texte bezieht. In seiner Unreflektiertheit vielleicht sogar affirmativer mit den gelernten Konnotationen und persönlichen Interpretationen selbiger umgeht. Und so den Mythos wiederholt: mehr geschaffenes Wissen, mehr Wahrheiten, die Abschaffung alles mythologischen, herzlichen Glückwunsch zur Odyssee 2004. 

Dass sie nicht bemerkt habe, was für eine großartige Chance sie hatten!
Sie hätten die Sirenen befragen können, sie hatten sie dabei. Sie hätten zu einem Wissen gelangen können, zu dem Odysseus (meinte, dass er) nicht kommen konnte. Sie hätten nur mal fragen müssen: Na, wie war das Experiment gerade für dich? Aha und hast du uns gesehen? Gehört? (denn das interessiert die Helden doch sicher, gesehen zu werden) Und wie hat sich dein Sound für
dich angehört? (ja, selbst so weit könnte man gehen) Und gab es vielleicht etwas, das du anders gemacht hättest? Vielleicht einen Ort auf der Insel, der akustisch für dich interessanter gewesen wäre? Wo du eher gesungen hättest? Weil das würde mich interessieren, was ich dann höre, wenn du dort singst. Weil das würde mich interessieren, was ich dann höre, wenn du dort singst wo, es sich für dich richtig anfühlt. Wollen wir das ausprobieren? Ah, das ist aber interessant, darf ich das in meinem Bericht notieren? 

Aber ja, vielleicht wären auch diese großen Männer wieder einen Tod gestorben, hätten sie den Sirenen gelauscht, das Wissen von Sängerinnen (was wissen sie schon?) in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen auch nur erwähnt. 

Ich arbeite an diesem Versuch gemeinsam mit der Sopranistin Lilia Dornhof. 
Wir entwickelten gemeinsam die Experimente. Die Beschreibungen derselben sowie die mythologischen Welten oder Situationen, die ich hier nach zeichne, sind aus unseren Gesprächen heraus entstanden und entstammen ihrer Phantasie mindestens so sehr wie meiner. 
Ich bin ausgesprochen dankbar für all die Gedanken, die Offenheit und Bereitschaft zum Experiment, insbesondere mit ihrer Stimme, und für die Einsichten, die sie mit mir geteilt hat.

(von der) Welt erzählen hätte auch heißen können Sirene/n werden, 
aber der Name war schon vergeben. Hier ist das Kapitel zum Namen.

Sirenen in Neukölln im Winter
20:26 min
18. April 2019

So viel zu den Fakten und zu den sie Erforschenden. Ist das die Essenz dieser Geschichten? Soll es diese kritisch betrachten? Und wenn ja, warum muss das über Fakten passieren? Sind Fakten überhaupt das Mittel der Wahl in einem Diskurs mit einem Mythos? 

Wir wollen fröhlich diesen wissenschaftlich erforschten Fakten folgen und stellen folgende Überlegung an: 
Wenn Sirenen also Mönchsrobben waren, so können wir schließen, dass Mönchsrobben halbe Menschwesen sind (weil Sirenen halbe Menschwesen sind) und wir müssten uns dann bis zu einem Gewissen Grad, nämlich zu 50%, in sie hinein versetzen können. Daraus folgt unser erstes Experiment. Wir wollen herausfinden:  Wie fühlt es sich an, einen anderen Körper, Mundraum, Lungenvolumen zu haben?  Und daraus folgend: Wie und in welchem Maße können wir unseren Körper, Mundraum, Atem anders behandeln, nutzen, was liegt noch in unserem Potential? Welche Laute kann und will unser Körper noch produzieren?
Da wir nicht sicher sind, welche unserer Hälften jeweils schon Sirenen sind, wollen wir uns durch Mimesis gänzlich in sie hinein versetzen, um dann, wenn wir über das Sirenendasein sprechen, auch sicher gehen zu können, dass wir darüber sprechen, was es bedeutet, eine Sirene zu sein, und nicht etwa ein Mensch.
Dier ist also unser Experiment Nummer eins: Robben werden.

Nach mehreren Stunden ausgiebigem sich auf dem Boden Rollen und Nüstern Schnauben und Rachen Ausfreißen besprechen wir eine Sinn-Lücke sowohl in unserer als auch in der Forschung Frommolts/Carlés: Wenn Sirenen halb Unterwasserwesen sind (und Mönchsrobben sind das allemal), dann sind ein Teil ihrer Soundproduktion sowie ihr Hörapparat auf das Leben unter Wasser angepasst. Unter Wasser verbreitet sich Sound anders als in der Luft und wenn unter Wasser kommuniziert werden will, muss das mit anderen Geräuschen geschehen als über Wasser. 
Daraus ließen sich einige Schlüsse ziehen, zum Körperbau, zum Gaumen oder Bewegungsapparat der Sirenen. Da wir aber keine Biologen sind, schließen wir an dieser Stelle unseres Forschens umgekehrt Schlüsse über die Sounds, die sie täglich umgeben und ihren daraus folgenden über Sinn für Ästhetik. Denn Erkennen von Mustern und Empfinden für Schönheit basieren auf Gewohnheit und unser Höraparat entwickelt sich in struktureller Kopplung mit den sie umgebenden Geräuschen. Ok, das ist jetzt doch Biologie, das sind Varela, Thompson und Rosh. Von ihnen ausgehend fragen wir: Wenn Sirenen auch unter Wasser leben und hören und ihr Sinn für Schönheit von Klängen daher ein anderer ist als der unsere, die wir in Luft leben, hören und klingen, was hören sie denn? 
Was klingt unter Wasser? Was könnten Sirenen deshalb als wohlklingend empfinden und selbst an Sound erzeugen wollen?

Wenn sich Sirenen in einem derartigen akustischen Umfeld bewegen, machen sie möglicherweise sehr ähnliche Geräusche. Woher also wissen wir, dass sich nicht schon Sirenengeräusche auf diesen Aufnahmen befinden?
Da wir aus eigener Forschung sowie der großartigen Pioniersarbeit von Lee Patterson wissen, dass es sich bei den aufgenommenen Geräuschen hauptsächlich um Unterwasserpflanzen handelt, entwickeln wir den phantastischen Gedanken: Was, wenn Sirenen Unterwasserpflanzen sind? 
Und das führt uns zu Experiment Nummer zwei: Unterwasserpflanze werden.

Wie ist es also, eine Pflanze zu sein?
Sicher, auch sie hat einen anderen Körper, Poren, aus denen sie Luft presst, hat eine Pflanzen Hörvermögen? Oder ist es ein bewegt-werden-Vermögen? * Pflanzen sind verwurzelt (nicht alle, viele Arten von zum Beispiel Algen sind es nicht), um sich fortzubewegen müssen sie wachsen, sich verpflanzen oder über Generationen denkend sich fortpflanzen. Wie Karine Bonneval in ihrem Vortrag Se planter (To plant oneself / To fail) auf der un/green Konferenz 2019 in Riga sagte: Pflanzen können vor ihren Problemen nicht davon rennen. Sie müssen sie lösen und tun das, indem sie sich ändern (und (damit) auch ihre Umwelt). Hier endet das paraphrasierte weil einem verbalen Vortrag entnommene Zitat. 

Pflanzenzeit ist langsam. Jedes Wollen ist ein Werden. Das ist das nächste Experiment. 

Pflanzensein und Zeit
14:26 min
19. April 2019

Nach einigen Experimenten fällt uns wiederum eine Schwachstelle unseres Sirenenentwurfs auf: Wir wissen doch, dass Sirenen fleischfressende Wesen waren, die (auch wenn das in der Odyssee so nicht beschrieben wird) die Seefahrer, die an ihren Klippen landen, bis auf die Haut verspeisen: … von aufgehäuftem Gebeine Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten…
*

So denn lautet unser Fazit: Sirenen sind Fleischfressende Pflanzen und dies ist unser nächster Versuch. Zwei fleischfressende Sirenen-Pflanzen im Wasser. Es ist ein warmer Morgen mit angenehm kühler Strömung. Eine Fliege oder ein Seefahrer verirrt sich in den Magen der einen und sie verdaut sie/ihn zum Frühstück. Die andere hat noch nicht gegessen.

Nun immitieren wir noch immer die Sounds, die unsere Mikrofone unter Wasser vernehmen indem wir sie in der Luft produzieren. Wie aber hören wir sie unter Wasser (im Vergleich zu unseren Mikrofonen)? Und wie funktioniert die Soundproduktion unter Wasser, wo Druck und Widerstand andere sind als in der Luft? Wo wir auftauchen müssen, um einzuatmen.
Inwiefern beeinflusst dies, also unser körperliches Vermögen und Unvermögen und Dasein in der Soundproduktion unter Wasser, unser Empfinden für (die) Ästhetik (der produzierten Sounds)? 

Sirenen in Neukölln 2 (loop)
07:04 min
18. April 2019 

Unter Wasser kann ich nicht und kann eine ausgebildete Sopranistin nicht den Pitch erzeugen, den wir uns vorstellen. Umso mehr wir es herstellen wollen, desto umfassender das Gefühl von Impotenz, das Scheitern. Wir können nicht – gerade weil wir wollen. Weil wir meinen, etwas aus uns heraus zu erzeugen (ohne Mitbestimmungsrecht der Umwelt) sei möglich. Unter Wasser lebend verstehen wir nach und nach, dass nur möglich ist, was im Zusammenspiel von Umwelt und mir entsteht. Es ist ein Trugschluss, erkennen wir auch, dem wir Menschen erliegen, wenn wir meinen in Luft und auf Land sei das anders.

Dies ist unser Fazit des Essais #5 (eine Kritik von) Homers Dichtung und die akustische Realität.

Sirenen im See
20:25 min
24. June 2019