"Was ist ein Mythos heute? Ich gebe unverzüglich eine erste, sehr einfache Antwort, die in voller Übereinstimmung mit der Etymologie steht: der Mythos ist eine Aussage.1", „Der Mythos heute", Mythen des Alltags, Roland Barthes, 1964.
1. Man kann mir hudert andere Bedeutungen des Wortes Mythos entgegenhalten. Ich habe versucht, Dinge zu definieren, nicht Wörter.
"Die folgende Texte wurden im Verlauf der Jahre 1954 bis 1956 aus jeweils aktuellem Anlaß monatlich geschrieben. Ich versuchte damals regelmäßig über einige Mythen des französischen Alltagslebens nachzudenken. Das Material dieser Reflexionen war höchst verschiedenartig (ein Zeitungsartikel, ein Bild in einer Wochenzeitschrift, ein Film, eine Theateraufführung, eine Ausstellung usw.) und das Thema höchst willkürlich, es handelte sich offensichtlich um das, was für mich aktuell war.
Der Anlaß für eine solche Reflexion war meistens ein Gefühl der Ungeduld angesichts der »Natürlichkeit«, die der Wirklichkeit von der Presse oder der Kunst anaufhörlich verliehen wurde, einer Wirklichkeit, die, wenn sie auch die von uns gelebte ist, doch nicht minder geschichtlich ist. Ich litt also darunter, sehen zu müssen, wie »Natur« und »Geschichte« ständig miteinander verwechselt werden, und ich wollte in der dekorativen Darlegung dessen, »was sich von selbst versteht«, denideologischen Mißbrauch aufspüren, der sich meiner Meinung nach darin verbringt.
Der Begriff des »Mythos« schien mir von Anfang an auf diese falschen Augenscheinlichkeiten zuzutreffen. Ich verstand das Wört zunächst in einem traditionellen Sinn. Doch war ich bereits von einer Tatsache überzeugt und versuchte aus ihr alle Konsequenzen zu ziehen: der Mythos ist eine Sprache. Daher glaubte ich, auch wenn ich mich mit von der Literatur scheinbar sehr weit entfernten Dinge befaßte (mit einem Küchengericht zum Beispiel oder einer Ausstellung von Erzeugnissen aus Plastik), nicht die allgemeine Semiologie unserer bürgerlichen Welt zu verlassen, deren literaischen Seite ich in früheren Esseys untersucht hatte. Erst nachdem ich eine gewisse Anzahl von aktuellen Fakten durchforscht hatte, bemühte ich mich, den zeitgenössischen Mythos auch methodisch zu definieren. Diesen Aufsatz habe ich an das Ende des Bandes gestellt, denn er systematisiert lediglich die vorhergehenden Materialien.
Diese Monat für Monat geschriebenen Texte erheben nicht den Anspruch auf eine organische Entwicklung. Ihre Verknüpfungsartist die des Wiederholens und Insistierens. Zwar weiß ich nicht, ob die wiederholten Dinge gefallen, wie es das Sprichwort behauptet, aber ich meine, daß sie zumindest etwas bedeuten. Und die Bedeutungen habe ich bei allen behandelten Gegenständen herauszufinden gesucht. Sine es meine Bedeutungen? Anders gesagt: gibt es auch eine Mythologie des Mythologen? Ganz sicher! Und der leser wird meinen Wetteinsatz selbst erkennen. Ich glaube jedoch gar nicht, daß das Problem, streng genommen, sich ganz auf diese Weise stellt. Die »Entmystifizierung« – um ein Wort zu gebrauchen, das sich abzunutzen beginnt – ist keine olympische Operation, Das soll heißen, daß ich nicht die alte Überzeugung teilen kann, nach der eine wesensmäßige Differenz zwischen der Objektivität des Gelehrten und der Subjektivität des Schriftstellers besteht, als ob der eine mit einer "Freiheit" der andere mit einer »Berufung« begabt wäre – ein Spiel, das darauf hinausläuft, die tatsächlichen Grenzen ihrer Situation zu eskamotieren oder zu sublimieren. Ich verlange, den Widerspruch meiner Zeit voll zu leben, der aus einem Sarkasmus die Bedingung für die Wahrheit machen kann. R.B.„Vorbemerkung", Mythen des Alltags, Roland Barthes, 1964.
Ich halte heute noch seine Gedanken für notwendig.