1.Wie ist die Idee zur Forschung entstanden?

 

Das Künstleratelier ist ein Labor, in dem Erwartungen, Wissen und Antrieb die empirischen Entscheidungen des Künstlers fordern. Der Entscheidungsprozess ist eine höchstpersönliche Erfahrung.

Das Gelungene und Misslungene finden sich nebeneinander innerhalb des entstandenes Bild und bilden ein Ganzes. Gleichzeitig reagiert das Material auf technische Eingriffe und Umgestaltung. So bildet sich eine systematische Vorgehensweise, die ich als den Kern meiner künstlerischen Praxis betrachte. Matisse beschreibt diese Schöpfung als ein zielgerichtetes angeordnetes Bündel von Aktivitäten, dessen Resultat ein Kunstwerk ist.1

 

Das Forschungspotenzial der künstlerischen Praxis entfaltet sich, indem dieses persönliche Bündel von Aktivitäten genau betrachtet wird. Das ist kein linearer Prozess, sondern ähnelt einer Spirale, weil man den gleichen Prozess durch das Tun immer wieder auf einer neuen Ebene erlebt. Jedes weitere Bild ist eine Konsequenz des Vorherigen, in dem Sinne, dass die gleichen Komponenten sich in eine weitere Gestaltungskombination entfalten. Die Theorie für den spiralförmigen Charakter des Schaffensprozesses tauch in weiteren Einsatzbereichen in der Kunsttherapie, Philosophie und Sprachwissenschaft auf. In Bezug auf Leibniz‘ Theorie des Entstehens benennt Prof. Dr. Constanze Peres das Entstehen von etwas Neuem als Neuheit-als-Wiederholung-des-Alten.2 Der Sprachanalytiker Harald Haarmann vergleicht unsere kulturelle Entwicklung mit einer (Kreis-)Bewegung des Erinnerns,3 die auch auf das Entstehen einer Serie von Kunstwerken zutrifft. Laut der Künstlerin und Kunsttherapeutin Prof. Doris Titze beginnt einen ähnlicher Prozess von Neuem, sobald der Kreativitätsprozess einen neue Ebene der Kohärenz- und Transformationserfahrung erreicht.4

 

Die künstlerische Arbeit in einer Werkstatt entfaltet den Spiralprozess Schlag auf Schlag. Das Arbeitsmaterial und seine anspruchsvollen Eigenschaften stehen im Mittelpunkt des Handelns. Jeder Eingriff verweist auf den nächsten. Der schöpferische Prozess lässt sich angesichts der handwerklichen Eingriffe gut nachvollziehen. Dazu gehören ganz klare Schritte, bis der Künstler zu einem kreativen Schöpfungsmoment kommt. Solche sind: die Orientierung innerhalb des Arbeitsraumes, die erste Interaktion mit dem Arbeitsmaterial und seinen Eigenschaften, das Kennenlernen von chemischen und physischen Prozessen innerhalb des Arbeitsverfahrens (Technik), erste Ergebnisse, die Vorbereitung des Materials für das Weiterbearbeiten. Die Wiederholung von Arbeitsschritten baut Wissen auf, das den Arbeitsprozess beschleunigt und Raum für spontane, zusätzliche oder experimentelle Angriffe ermöglicht.

 

Um meinen künstlerischen Prozess empirisch zu verfolgen, beziehe ich mich auf die Theorie von D. Titze über den Kreativitätprozess. Aus kunsttherapeutischer Hinsicht beinhaltet der Spiralprozess der Schöpfung fünf Teile: Präparation – der Antrieb einer Gestaltung, Inkubation – der vom Unbewussten geförderte Kreativprozess, Illumination – Aha-Erlebnis, Realisation – Orientierung innerhalb des kunsttherapeutischen Geschehens, und Verifikation – Überprüfung der erreichten neuen Ebene von Erfahrung, die gelegentlich auch mit der Realisation verflochten ist. Unmittelbar danach fängt der gleiche Prozess wieder von vorne an.

Die Werkstatt für Papier und die Werkstatt für Steindruck sind meine Labore.

Das Objekt meiner Forschungsanalyse ist das Spiralprozess in meiner künstlerischen Praxis. Papierschöpfen und Steindruck sind die Handwerke, mit dem ich mich in dieser Analyse auseinandersetze. Dabei überprüfe ich die Ergebnisse meines künstlerischen Handelns auf ihre Übertragbarkeit, indem ich einen zweiwöchigen Aufenthalt in der Papierwerkstatt Papierwerk Glockenbach und den sich unmittelbar daran anschließenden Aufenthalt in der Steindruckwerkstatt in Künstlerhaus München erlebte.


1 Henri Matisse (1953), in: Jack D. Flam (Hrsg.) (1982): Henri Matisse. Über Kunst, Zürich, S.261 f.

In Dingen der Kunst ist der echte Schöpfer nicht nur ein begabter Mensch, sondern einer, der es verstanden hat, ein ganzes Bündel von Aktivitäten zu ordnen im Hinblick auf ein Ziel, dessen Resultat ein Kunstwerk ist.“

2 Constanze Peres (2020), Wie entsteht Neues? XI, Paderborn 2020, S. 9

3 Harald Haarmann: Unser Sinn für Bildhaftes und Abstraktes. Parallelen in der Geschichte von Bild und Kunst. In: Titze, D.; HfBK Dresden (Hrsg.) Zeichen setzen im Bild. Zur Präsenz des Bildes im kunsttherapeutischen Prozess. Dresden, Sandstein 2012; S 18 – 30.

4 Doris Titze (2019), wie Einleitung, Anm. 1

Einleitung:

Die Verschränkung zweier künstlerischer und handwerklicher Techniken steht im Mittelpunkt meines künstlerischen Forschungsvorhabens. Seit Jahren arbeite ich mit dem druckgrafischen Verfahren der Lithografie, wobei ich deren Möglichkeiten und Grenzen immer weiter auslote. In den vergangenen Jahren kann als zweite wesentliche Komponente der Prozess der Papierproduktion hinzu, in enger Verschränkung mit den Anforderungen, die Lithografie an den Bildträger stellt.

 

Ausgangspunkt für den forschenden Prozess ist einerseits meine langjährige Erfahrung in der Lithografie im Sinne von Körperwissen oder tacit knowledge, andererseits die empirische Erfahrung bzw. Schulung der künstlerischen Entscheidungsfähigkeit hinsichtlich der Gestaltung von künstlerischen Werken.

 

Darüber hinaus thematisiere ich in meiner Forschung die Frage, inwieweit die künstlerische Arbeit und forschende Erkenntnisproduktion von wechselnden Umfeldern beeinflusst wird. Hierzu habe ich zwei Stipendien in verschiedenen Werkstätten für Papierproduktion und Lithografie in München angenommen, die es mir erlaubt haben, die örtliche Bedingtheit meiner Arbeit zu hinterfragen.

Meine künstlerisch-praktische Forschung folgt einerseits einer Methodik, die ich aus dem Feld der Kunsttherapie entlehnt habe, dem sechsstufigen Spiralprozess von Erkenntnisproduktion nach Doris Titze,1 andererseits wende ich für die Frage nach der Ortskomponente autoethnographische Methoden an.

Die künstlerischen Artefakte sind in diesem Sinne Abbilder des Forschungsprozesses und materialtechnische Versuchsreihen, zugleich jedoch auch Resultate eines gestalterischen Prozesses, der auf verkörpertem Spezialistenwissen basiert.

 

1 Titze, D, HfBK (Hg) Das verkörperte Bild, Sandstein 2019; S 290 - 292