Entwurf 03/2

Jana Thierfelder:

«Was ist mehr Vogel?»

Translationen vom Vogel zur Datentabelle

Gretchen Wagner ist Biologin. Mit ihrer Doktorarbeit nimmt sie an dem seit drei Jahren laufenden Projekt „Proximate and Ultimate Causes of Cooperation“ der Universität Zürich teil. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit dem Kooperationsverhalten von Vögeln auseinander. Sie untersucht in einer breit angelegten
Forschung zahlreiche Spezies hinsichtlich der Zusammenhänge von Kooperation und Reproduktion. Ein wichtiger Teil der Forschung ist die Feldarbeit. Diese findet einmal jährlich statt. Jeweils für drei Monate
fährt Gretchen und ihr Team in ein Gebiet in Granada. Hier werden alle Experimente und Untersuchungen durchgeführt, dokumentiert und später in ihrem Labor an der Universität Zürich ausgewertet.

 

 

Was ist mehr Vogel?

 

Für meine Arbeit sind nicht die Forschungsergebnisse aus naturwissenschaftlicher Perspektive interessant, sondern die Art und Weise, wie die Übersetzungen vom freien Vogel in der Natur zur Datentabelle im Labor statt finden. Meine Überlegungen zu diesen Vorgängen stützen in erster Linie auf dem Text „Der Pedologen- faden von Boa Vista. Eine photo-philosophische Montage.“ von Bruno Latour. Außerdem war die Auseinandersetzung mit den Texten „Erfahrung und Tatsache“ von Ludwik Fleck und „Mischformen des Wissens“ von Hans-Jörg Rheinberger für dieses Thema entscheidend. Ich möchte provokative die Frage stellen: Was ist mehr Vogel? Die Datentabelle oder das lebendige Tier in freier Wildbahn?

 

 

Bedeutung von Referenzen

 

Um Forschung betreiben zu können, ist es für den Biologen unumgänglich ein Referenzsystem, das exemplarisch alle notwendigen Informationen über den zu untersuchenden Gegenstand enthält zu entwickeln. Dieses System wird am Ende der Feldforschung in Form einer Datentabelle dargestellt. Auf

dem Weg dorthin finden zahlreiche Übersetzungsschritte statt. In diesen werden die Informationen erzeugt, Daten erhoben und aus dem Untersuchungsobjekt herausgefiltert. Die Ergebnisse und Schritte in der Feldarbeit, die statt finden, müssen in eine dokumentierbare Form gebracht werden. Diese muss einem für das Forscherteam allgemein verständlichen Code entsprechen. Neben den inhaltlichen Kriterien spielt auch eine rein formale Eigenschaft eine entscheidende Rolle: sie müssen den Weg vom Feld in Spanien ins

Labor in der Schweiz unbeschadet überstehen, also möglichst handlich, robust und transportfähig sein. 

 

Im Feld sammelt der Forscher also Spuren. Einerseits handelt es sich um bereits vorhandene, die direkt vom Tier stammen, wie Federn und Eierschalen. Diese sind ein direkter Verweis auf die Vögel. Andererseits müssen Spuren, im weiteren auch Referenzen genannt in Experimenten künstlich erzeugt werden. Um die Referenzen zu konservieren bedient sich der Forscher unterschiedlicher Mittel: Fotografien, Skizzen, Video- und Audio- aufzeichnungen, Proben, Texte und Notizen. Diese Spuren werden vom Forscher also in eine Zeichenwelt umgewandelt. Neben den genannten Hilfsmitteln kann das auch die Überstzung in einen im Vorhinein festgelegter Code sein. 


Betrachtet man die Beschäftigung der Philosophie mit diesem Prozess der Zeichenerzeugung in der Wissenschaft, ist man mit zahlreichen Begriffen konfrontiert: Bruno Latour spricht in erster Linie von Referenz, Referent, Repräsentation. Michael Guggenheim von Translationen, also Übersetzungsschritten. Die präzise Bedeutung der einzelnen Begriffe zu klären, wäre eine wichtige, in dieser Arbeit aber nicht umsetzbare Aufgabe. Für den vorliegenden Text sollen sie alle der Einfachkeit halber in etwa der Definition „die Übersetzung von Zeichen in andere Zeichen“, entsprechen. Der Wissenschaftler und auch die technischen Hilfsmittel, die er verwendet, möchte ich im Folgenden jeweils als den Übersetzer beziehungsweise die Übersetzung betrachten.

 

Vor Allem die Wahl der Mittel zur Darstellung dieser Referenzen und Zeichen sollen hier untersucht werden. Auch die dadurch entstehenden Probleme dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Damit sind beispiels- weise wissenschaftliche Konventionen wie die Positionierung der Wissenschaften zur Objektivität gemeint. 

 

 

Erzeugung und Darstellung von Referenzen

 

Referenzen spielen im Forschungsprozess eine, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle: sie dienen neben ihrer dokumentarischen Eigenschaft auch, wie Hans-Jörg Rheinberger formuliert „(...) als Werkzeuge, als technische Objekte zur Konstruktion neuer Forschungsarrangements“ und stellen damit den Übergang dessen, „was vorangeht, und dem, was folgt“ dar. Sie sind das Hauptinstrument der Forschung. Ohne sie

wäre Forschung nicht möglich. Um Thesen zu klären und neue Thesen aufzustellen, kann immer nur ein bestimmter Aspekt des Untersuchungsgegenstandes unter dem Blickwinkel der Fragestellung betrachtet werden. Diese Aspekte sind Informationen, die in der Erzeugung von Referenzen aus einem Gesamtkomplex herausgefiltert werden. In diesem Punkt klingt bereits das erste Problem der wissenschaftlichen Forschung an: Es handelt sich meist um entweder/ oder Fragen, bei denen in der Regel ein großer Teil des zu unter- suchenden Gegenstandes zu Gunsten eines Detailaspekts ausgeblendet wird. Hierbei handelt es sich um eine in der Naturwissenschaft allgemein anerkannt Konvention. Dass durch die Bezugnahme der ausgeblendeten Details ein völlig anderes Forschungsergebnis entstehen könnte, bleibt unbeachtet. Hierauf möchte ich später eingehen. Wie einzelne Übersetzungsschritte getätigt werden, soll zunächst an einigen ausgewählten Darstellungen von Experimenten aus der Beobachtung verschiedener Vogelarten in der Feldarbeit von Gretchen Wagner gezeigt werden.

 

 

Übersetzungsschritte: von Spuren zu Daten

 

Übersetzungsschritt 1: Nestsuche und GPS

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für die Doktoranden, Assistenten und Praktikanten beginnt die Feldarbeit mit der Nestsuche. Um die richtigen Nester zu finden, müssen sie den Gesang, das Aussehen und das Verhalten der Vogelarten kennen. Dazu bekommt jeder Teilnehmer Tonaufnahmen, Fotografien und Beschreibungen zu den Vögeln, die sie im Vorhinein genau studieren müssen. Sobald ein Nest oder ein Hinweise auf ein Nest (z. B. Ein fliegender Vogel) gefunden wird, wird in einem GPS System eine Markierung gesetzt. Jede Nestmarkierung wird nach einem Code bezeichnet. Dieser Code bestehen aus Ziffern, Buchstaben und grafischen Symbolen. Er beinhaltet verschiedenartige Informationen über die Nester. Beispielsweise die Aktivität, das Stadium in dem sich die Eier befinden oder ob ein Nest ausgeraubt oder gestört wurde. Auch die Markierungen der Nester vom Vorjahr sind in diesem Kartensystem wieder zu finden. Dies erleichtert die Nestsuche. Da Gretchen verschiedene Vogelarten untersucht und an diesen jeweils verschiedene Experimente durchführt, gibt es für jede Spezies eine eigene Karte. So kann der Überblick bewahrt werden. Die Orte, an denen sich Nester befinden werden zusätzlich mit Naturalien markiert. Die digitale Karte hat den Vorteil, dass sich alle Forscher die Informationen teilen und bearbeiten können, da sie gleichzeitigen Zugang haben. Zusätzlich ist in ihr auch die Topographie des Ortes dargestellt und unterstützt die Orientierung und die Wegfindung im Territorium. 

 

Bereits im ersten Schritt der Feldarbeit sind zahlreiche Übersetzungen wieder zu finden: der Gesang der Vögel wurde in digitale Daten, die visuellen Eigenschaften der Tiere in Fotografien und das Verhalten in Form von Beschreibungen wurde in Sprache und Abkürzungen (Codes) übersetzt. Die digitalen Stecknadeln sind ebenfalls eine Übersetzung der Nester in Codes. Die topografische Darstellung ist die Übersetzung der Berge und Täler in Linien und Farben. Nicht zuletzt ist dies alles eine Übersetzung in einen programmierten Code, der die Darstellung der Karte auf einem GPS System erst ermöglicht. Wir haben es hier bereits mit einem komplexen Zeichensystem zu tun, das zahlreiche Informationen in visuelle Elemente übersetzt. Auch wenn das GPS System noch keine Informationen über die Experimente mit den Tieren enthält, ist dieser Schritt Voraussetzung, der erst alle weiteren Untersuchungen des Forschers ermöglicht. Es gibt eine klare Ordnung und Struktur vor und begrenzt den Untersuchungsraum von Beginn an auf eine festgelegte Auswahl der Nester.

 

 

Übersetzungsschritt 2: Memorieren durch Illustrieren

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neben den GPS Markierungen entwickeln die Forscher zusätzlich eine Illustration für jedes Nest. Das erleichtert die Wiedererkennung und die Einprägung der Nester. Meist beinhaltet diese Skizze eine Anekdote über die Umstände, die regionalen Gegebenheiten und die Situation unter der das Nest gefunden wurde. Der Praktikant Juan hat beispielsweise ein Nest nach einer kurzen „Siesta“ unter einem Baum zufällig beim Aufwachen direkt über sich entdeckt. An einem Ort nahe einem Gewächshaus, das allen Biologen bekannt war. Die Illustration zeigt folglich Juan, der unter einem Baum liegt. Der Name „Green House Siesta“ fasst Situation und Ort zusammen. Die Bilder stehen am Anfang einer jeden Experimentiertabelle. Auf diese Weise wird nach den individuellen Erlebnissen des Nestfundes eine für das gesamte Forscherteam gültige Codierung entwickelt, die sich teilweise bis in die Publikationen fortsetzt und Spuren des Subjekts des Wissenschaftlers hinterlässt.

 

Während im ersten Schritt der Referenzerzeugung durch die Verwendung eines technischen Hilfsmittels noch eine relativ objektive Anmutung entstand, suggeriert diese Form der Darstellung Subjektivität. Es darf nicht vergessen werden, dass auch das GPS System schon von einer Zeichencodierung determiniert ist und somit streng gesehen ebenso wenig wie die Notizen des Wissenschaftlers für objektiv gehalten werden darf. Auch dieses System hat Einfluss auf das Forschungsergebnis. Dieser Sachverhalt soll hier aber nicht weiter thematisiert werden. 

Durch den Einsatz von Illustration werden nicht nur Informationen über die Untersuchungsgegenstände festgehalten. Es werden zusätzliche Spuren über die Arbeit, die Persönlichkeit und die Erlebnisse der Forscher erzeugt und somit Teil des Forschungsresultats. Die Eigendynamik, die die verschiedenen Darstellungsformen der Referenzen entwickeln können, wird hier deutlich. Denn durch diese Form der Zeichenherstellung wird eine neue Referenzkette angestoßen. Auf die Möglichkeit der Verästelung und Weiterführung dieser Kette in anderen Disziplinen, wie beispielsweise die Soziologie oder Philosophie soll nur kurz hingewiesen werden. In dieser Art der Referenzerzeugung, drängt sich mir die Frage nach den gängigen Konventionen der Wissen- schaft auf: Welchen Einfluss nimmt sie auf Objektivität, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit der Wissenschaft. Welchen Einfluss hat sie auf die Rolle des Subjekts des Wissenschaftlers? 



Übersetzungsschritt 3: Experimentiertabellen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neben den oben angesprochenen Experimentiertabellen gibt es Tabellen, in denen unter Verwendung eines allgemein gültigen Vokabulars (Codes) das genaue Verhalten der Vögel übersetzt wird. Für jede Vokabel, die eine Verhaltensform beschreibt gibt es eine genaue Definition.

 

Auch hier stellt sich die Frage nach der Eindeutigkeit der Untersuchungen, also der Reproduzierbarkeit und Objektivität. Selbst wenn das Vokabular noch so präzise festgelegt ist, unterliegt die Beobachtung den subjektiven Einflüssen des Forschers. Diese können abhängig von Tagesform, Klima, psychischer Verfassung oder aber auch möglichen Fehlverwendungen des Vokabulars variieren.



Übersetzungsschritt 4: Experimental Cards

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Des Weiteren werden für die Dokumentation von Experimenten „Experimental Cards“ verwendet. Hier treten die selben Probleme, wie sie bereits aus den Experimentiertabellen bekannt sind zu Tage, auch hier hat die subjektive Interpretation und Gefühlslage Einfluss auf die Notizen. Interessant zu beobachten ist außerdem, wie neben den codierten Aufzeichnungen zu den Untersuchungen unter dem Punkt „Experimental Treatment“ in „Location Description“ zusätzliche Notizen für jeden Forscher gemacht werden. Der Satz „No ladder but beware of the electric wire“ wird plötzlich Teil des Experiments und öffnet ebenfalls eine neue, eigene Richtung in den Repräsentationen. Auch hier muss gefragt werden, welchen Einfluss dieser Hinweis auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Beobachtung haben kann. 


Selbstverständlich werden in der Feldarbeit noch zahlreiche weitere Übersetzungsschritte getan, doch sollen diese Beispiele ausreichen, um ein erstes Bild über die Herstellung und die Problematiken dieser Trans- lationen, wie sie Michael Guggenheim nennt, zu skizzieren.

 

Betrachtet man die Übersetzungsschritte eins bis vier, werden zahlreiche Probleme deutlich. Die Unter- suchungen sind von subjektiven Entscheidungen und äußeren Einflüssen geprägt. Diese können immense Auswirkungen auf die Ergebnisse haben. Den Zeichen, Codes, Vokabeln, Skizzen und Notizen, die die Informationen in eine verwertbare und kommunizierbare Form bringen, ist immer das Subjekt des Wissenschaftlers zwischengeschaltet. Der Forscher ist selbstverständlich nie in der Lage alle Faktoren gleichzeitig zu berücksichtigen und diese völlig ungefiltert wahrzunehmen und zu übersetzen. Das Ausgangsmaterial des Forschers ist folglich immer aufgrund Übersetzungen gefiltert und verfälscht. Von diesen Informationen gehen nun aber alle weiteren Schritte und Schlüsse der Untersuchungen aus. Das bedeutet, dass die Wissenschaft mit diesem subjektiven und unsauberen Material nicht in der Lage

ist eine eins zu eins Abbildung der Realität darzustellen. Dennoch wird dem Leser diese Tatsache in der wissenschaftlichen Veröffentlichung suggeriert.

 

 

Abschluss der Übersetzungsschritte: Übertragung in die Datentabelle 

























 

Ziel der Feldarbeit ist es Daten zu generieren. Ist die Feldarbeit beendet müssen alle Dokumente, die gesammelt wurden in eine Datenbank eingespeist werden. Auch in diesem Schritt bedienen sich die Forscher dem Prinzip der Übersetzung. Die Skizzen, Zeichnungen, Farbcodes, Abkürzungen und Notizen müssen alle in einen einheitlichen, digitalisierbaren Code umgewandelt werden. Das, was ursprünglich ein frei fliegender Vogel in der spanischen Landschaft war, wurde in zahlreiche Informationen aufgegliedert und ist nun in Form einer komplexen Datentabelle vorhanden. Fast jede beliebige Information über das Tier kann anhand einer Stichwortsuche aufgerufen werden. Die eigentliche Forschung findet erst in der Auswertung dieser Daten statt. Erst in diesem Schritt können Bezüge hergestellt, Vergleiche angestellt, Thesen widerlegt oder bestätigt und neue Fragestellungen eröffnet werden.

 

 

Problematiken der Übersetzung

 

In jedem Übersetzungsschritt gehen Informationen verloren oder kommen neue Informationen hinzu. Das kann durch subjektive Wahrnehmung, Interpretation oder durch die Anlage der Experimente geschehen. Hierbei handelt es sich nicht um Fehler, sondern um unvermeidbare Tatsachen, die in jedem Übersetzungs- prozess statt finden. Der Fremdsprachenübersetzer ist ebenso wenig in der Lage, die Stimmung, Sprache und den Inhalt eines Textes analog in eine andere Sprach zu übersetzen, wie der Wissenschaftler nicht die Realität abbilden kann. Die Ergebnisse unterliegen immer ihren individuellen Entscheidungen. Je mehr Übersetzungs- schritte statt finden, desto mehr droht das Ergebnis verfälscht zu werden. 

 

1. Handschrift

In unserem Beispiel trägt jedes Experiment die Handschrift eines Forschers, auch der Code des GPS Systems. Der Forscher verwendet dazu verschiedene Hilfsmittel, Farben, Filzstifte, Ziffern, Buchstaben und Formen. Hier finden gestalterische Entscheidungen statt, die von anderen ausgewertet und unterschiedlich interpre- tiert werden und somit Einfluss auf die wissenschaftliche Datenerhebung haben. 

 

2. Entweder / Oder-Entscheidungen

Der Forscher ist außerdem immer gezwungen entweder / oder Entscheidungen zu treffen, die durch seinen subjektiven Filter beeinflusst werden: Wird ein Experiment an einem bestimmten Nest durchgeführt, muss auf das andere für dieses Nest verzichtet werden. Hinzu kommen persönliche Leidenschaften des Forschers, die sich auch auf die Präzision und Intensität der Forschung ausüben können. 

 

3. Auswertung

Darüber hinaus gehen in den einzelnen Übersetzungsschritten zahlreiche Informationen verloren, werden vielleicht übersehen und aufgrund der händischen Dokumentation von den Assistenten fehlinterpretiert. Ebenso können aber auch neue Aspekte hinzu kommen. 

 

Wie weit werden diese Fehlinterpretationen von den Forschern in ihrer Arbeit berücksichtigt?

 

„Repräsentation ist immer auch Intervention, Invention und Kreation.“ Wie weit ist die Naturwissenschaft dann noch in der Lage von einer 100% Reproduzierbarkeit der Experimente und einer klaren Objektivität zu sprechen? Besonders brennend wird die Frage nach Subjektivität im fertiggestellten Paper. Während in den einzelnen Untersuchungsschritten, die zwar der Öffentlichkeit verschlossen bleiben noch klar Subjektivität erkennbar wäre, wird in der Veröffentlichung das Versprechen von Objektivität vorgetäuscht. Warum wird diese Konvention weiterhin aufrecht erhalten, obwohl augenscheinlich ist, dass die Wissenschaft nicht in der Lage ist dieses Versprechen von einer eins zu eins Abildung der Natur zu halten? Welche Folge hätte die Darstellung der Subjektivität in der Wissenschaft? Würde die Wissenschaft so nicht sogar als ehrlicher und damit realisnäher anerkannt werden?

 

 

Zurück zu den Eierschalen:

 

Eierschalen sind eine reale, unverfälschte und greifbare Referenz zu einem Vogel. Durch den Fund in meinem Wohnzimmer wird eine neue Referenzkette eröffnet, die umgedreht funktioniert: Während durch die Biologin ausgehend vom Vogel Übersetzungen gemacht werden, liegt hier ein Zeichen vor, dass direkt auf den Vogel verweist. Ich bin mir zwar über den Weg, der über Gretchen Wagner, deren Besuch in meinem Apartment, und den Grund unserer Kooperation lief bewusst, doch weiß ich auch, dass diese Referenz nicht künstlich erzeugt worden sein kann. Während alle Bilder, Fotos und Skizzen, die ich von Gretchen bekommen habe gefilterte Formen und Zeichen waren, hat das Projekt durch den Fund der Eierschalen an Realität gewonnen. Vermutlich, weil ich einen echten, unübersetzten und somit unverfälschten Verweis auf die sichere Existenz des Vogels in den Händen halte. Nun möchte ich erneut die Frage stellen: 

 

 

„Was ist mehr Vogel?“


 

 

Quellen:

Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996 

Ludwik Fleck: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 1983

Hans-Jörg Rheinberger: Iterationen, Berlin 2005

Michael Hampe, Maria-Sybilla Lotter (Hrsg.): «Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben». Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften, Darmstadt 2000

 

Abbildungen:

Gretchen Wagner